Tina Uebel

im Gespräch über Hamburgismen, Extremlandschaften und Lagerhallen voller Eindrücke

Tina Uebel, für Ihren ersten Roman haben Sie Ihre Heimatstadt Hamburg als Handlungsort gewählt.

Beim Roman Ich bin Duke wird Hamburg zwar nicht erwähnt, doch die Stadt ist erkennbar. Das Buch ist eher im Irrealen verortet, aber wenn man Hamburg kennt, wird man viele Orte wie die Elbe oder den Kiez finden. Natürlich ist Hamburg die Stadt, die ich am besten kenne, aber im Grunde genommen könnte es auch eine Großstadt wie Berlin sein. Als Lokalpatriotin habe ich allerdings auch ein wenig Spaß daran, Hamburgismen, wie z. B. das Wort „plietsch“ am Lektor vorbei in die Texte zu schmuggeln.

Gibt es Ihnen Sicherheit, Ihre Geschichte in einem Ihnen bekannten Umfeld spielen zu lassen?

Nicht nur Sicherheit, man hat auch viel mehr zu erzählen. Aufgrund der emotionalen Bindung kann man die Geschichten lebendiger erzählen. Momentan arbeite ich an dem Manuskript einer Science-Fiction-Geschichte, die in den USA spielt. Manchmal muss es eben woanders spielen. Aber natürlich bereichert eine gewisse Verbundenheit und Ortskenntnis eine Erzählung.

Und innerhalb der Stadt können Sie die Protagonisten gezielt in einen örtlichen Kontext stellen?

Sicherlich. Die Wahrnehmung der Orte sagt letztendlich viel über die Charaktere aus. Es sagt viel über eine erdachte Person aus, ob sie nun den Hafen oder den Stadtpark mag, Elbe oder Alster. Oder ob sich jemand auf der Reeperbahn fühlt wie ein Fisch im Wasser oder diese eher mit Wut oder Angst betrachtet. Voraussetzung ist ein Gefühl für den Ort. Die genaue Kenntnis der Orte macht es dann sehr viel einfacher, die Personen durch die Interaktion mit den Orten zu charakterisieren. Und was mir in besonderer Weise auffällt: Wenn es sich um irreale Wunschwelten oder Sehnsuchtslandschaften dreht, dann lande ich oft in Norddeutschland.

Sie sind viel gereist: z. B. Grönland, Tschernobyl, Kongo, Mongolei. Alles beinahe weiße Flecken in der Tourismusindustrie, und man kann sie nur schlecht erreichen. Haben Sie diese Länder bereist, um zu recherchieren?

In erster Linie zum Selbstzweck. Aber wenn man den Anspruch an sich hat, Schriftsteller zu sein, ist man permanent auf Recherche. Im Grunde genommen hat man dann eine Verpflichtung, so viel Weltkenntnis und -Erkenntnis wie nur irgend möglich zu erwerben. Für mich gibt es daher nichts, was recherchefrei wäre. Je mehr Wissen man zur Verfügung hat, desto größer ist der Fundus, aus dem man schöpfen kann. Die Reisen dienen also nicht direkt der Recherche, aber es ist Teil meiner Arbeit, wie ein Staubsauger durch die Welt zu gehen und so viele Eindrücke wie möglich zu sammeln – Eindrücke, die abseits der sich sehr ähnelnden Erstwelt liegen. Und dadurch habe ich in meinem Kopf eine Art Lagerhalle mit Eindrücken und Gedanken. Wenn ich dann einen Roman schreibe, kann ich durch die Lagerhalle streifen und mich bedienen.

Haben Ihre Reiseziele eine charakterliche Schnittmenge?

Schwierig. Es sind schon sehr unterschiedliche Ansätze. Bei der Reise in den Kongo stand die politische Situation im Vordergrund. Der Kongo ist ein medial extrem durchdeklinierter Nachrichtenort. Aber die Nachrichten versteht man erst, wenn man dort  gewesen ist und ein Gefühl dazu aufgebaut hat. Kamtschatka dagegen macht eine unglaublich spektakuläre unberührte Natur aus. Schnittmenge ist vielleicht, dass man an diese Orte kommt und nicht als erstes McDonald’s, BodyShop oder einen Mango-Bekleidungsladen sieht.

Die Erfahrungen, die Sie auf einem russischen Eisbrecher am Rand der Antarktis gesammelt haben, sind in den Roman „Horror Vacui“ eingeflossen. Eignen sich Orte der Einsamkeit in besonderer Weise als Handlungsorte?

Nicht im Allgemeinen. Ich persönlich habe einen Hang zur Einsamkeit – meine Figuren der Extremtouristen in Horror Vacui kommen dagegen mit der Einsamkeit und Leere sehr schlecht zurecht. Wesentliches Merkmal ist deshalb das Extrem. Für mich sind extreme Landschaften besonders interessant. Ich kann gut mit Hochgebirge, mit der flachen norddeutschen Tiefebene, mit Wüsten oder dem Dschungel, aber so ein bewaldetes Mittelgebirge kann man mir nackt auf den Bauch binden – da regt sich bei mir gar nichts. Und extreme Landschaften bringen auch extreme Empfindungen hervor. Das ist interessant, denn es sind ja keine fremden Empfindungen, lediglich die Intensität der Empfindung ist hochgeschraubt. Die Horror Vacui-Figuren wollen alle ihre innere Leere mit einem Extremerlebnis füllen und das wird mit der totalen Leere der antarktischen Landschaft konterkariert.

Die Figuren bringen die mentale Leere schon mit?

Irgendein Defizit wird man wohl haben, wenn man einen solchen Trip zum Südpol macht. Die Frage ist ja, was treibt diese Menschen zu all diesen Formen von Extremerlebnissen? Es scheint ja ein Bedürfnis nach Extremen zu geben, sonst würden diese Sportarten nicht derart boomen.

Sie beschreiben in „Horror Vacui“, wie die Leere der Landschaft dazu führt, dass die Figuren zerfasern, weil der Außendruck fehlt, der die Moleküle zusammenhält. Wie kommen Sie auf ein solches Bild – Empirie oder Imagination?

Das klingt wie ein furchtbares Klischee – Paul Auster redet auch immer von so einem Quatsch –, aber all meine Protagonisten bekommen irgendwann eine frappierende Realität. Es passiert einfach. Der Figur passiert es – ich schreibe es nur auf. Aber es gibt auch Eindrücke, die ich nicht beschreiben könnte, wenn ich nicht dort gewesen wäre. Es ist so fremd, so anders, dass man es auch nicht aus anderen Erfahrungen hochrechnen könnte.

Der Begriff Horror Vacui bezeichnet das Bestreben der Natur, Leere zu füllen. Welche Erfahrung machen Ihre Figuren beim Wandern durch die Antarktis mit diesem Bestreben?

Die Protagonisten versprechen sich von der Reise, dass ihre eigene Leere gefüllt wird. Es hat ja das Versprechen einer heroischen Tat – auf den Spuren des antarktischen „Heroic Age“, also einer Zeit, als wirklich noch weiße Flecken zu entdecken waren. Die Heroische Tat also zum Zwecke, dem eigenen Leben in Anbetracht der Sterblichkeit einen Sinn zu geben. Eine einsame und doch sinnlose Angelegenheit, vor allem, weil man keine großen Entdeckungen mehr machen kann. Und kein Berg wird auf ewig meinen Namen tragen! Meine Figuren investieren alle nicht besonders viel Hingabe – 50.000 Dollar für eine Extremerfahrung, dafür kann man sich keinen Sinn kaufen. Wenn es denn ein klassischer Selbstfindungstrip ist, so finden meine Figuren heraus, dass sie nicht über genügend Selbst verfügen, um fündig zu werden.

Sind neue Reisen geplant?

Momentan nicht. Aber Afrika ist für mich ein Thema, weil auf meinem inneren Globus dort noch so viel Leere herrscht. Und ja, ich möchte zum Südpol. Es ist natürlich eine irreale Idee, und ich bin im höchsten Maße ambivalent, denn ich finde ein solches Pauschalerlebnis krank und kaputt, und trotzdem ist der Pol ein Ziel meiner Sehnsucht – auch wenn es da nichts zu sehen gibt.

Interview © Jens Nommel 10/2007

zurück