Vea Kaiser

im Gespräch über Fluchtwege, erdachte Inseln und das Aussterben von Klischees


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Ingo Pertramer

Vea Kaiser, Ihr erster Roman Blasmusikpop spielt in einem Dorf in den "mittel-hoch-peripher-zentralen-nord-ost-süd-westlichen Sporzer Alpen". Wo ist das bitte genau?

Ich wollte mich geographisch nicht festlegen. Mal habe ich die Geschichte südtirolerisch gesehen, dann wieder bayrisch oder schweizerisch. St. Peter am Anger - so heißt das Dorf, liegt eben irgendwo in den Bergen.

Das Dorf wurde abgeschieden zwischen den Bergen erbaut. Inwiefern ist diese isolierte Situation wichtig für die Figuren und die Handlung?

Also ich persönlich habe mit den Bergen gar nichts am Hut. Aber die Abgeschiedenheit der Bergwelt ist für die Geschichte doch recht wichtig. Die Alternativen wären entweder eine Insel oder der Dschungel gewesen. Aber als Österreicherin habe ich mich für das Bergdorf entschieden. Für mich steht die Welt der Berge sinnbildlich dafür, dass der Mensch nicht alles sehen und denken kann.

Warum? Hat ein Mensch auf einem Berggipfel nicht den Überblick?

Nein, St. Peter ist umgeben von höheren Bergen. Da sieht man relativ wenig.

Oftmals stehen die Berge auch für das Dramatische und das Abgrundtiefe ...

Das Abgrundtiefe hat man überall - auch in den Städten, wo es vielleicht etwas versteckter ist. Sie wissen, was der schlimmste Ort für die Österreicher ist? Der Keller. Denken Sie an Natascha Kampbusch, Josef Fritzl und Der dritte Mann... Er ist ein Ort ohne Fluchtwege.

Blasmusikpop ist kein Heimatroman - trotzdem steckt man als Leser tief in der Provinz ...

Ja, es geht sicherlich um Erwartungen: Die Menschen dort in St. Peter stellen sich die Welt ganz anders vor, als sie ist! Und die Welt stellt sich St. Peter ganz anders vor. Das ist immer das Interessante, dass wir immer unsere Vorstellungen haben, die dann gebrochen werden, wenn wir uns dort hinbegeben. Es ist das  Interessante am Reisen und letztlich der einzige verständliche Grund des Reisens: dass die eigenen Vorurteile enttäuscht werden.

Es ist Ihnen als Autorin ein Anliegen, Klischees zu brechen?

Ich kann viele Klischees gar nicht erst nachvollziehen. Es stimmt zum Beispiel nicht, dass Schwaben nicht lachen können. Das weiß ich von meinen Lesungen dort. Aber Klischees sind sowieso vom Aussterben bedroht, weil wir in einer immer heterogener werdenden Gesellschaft leben, in der es so viele verschiedene Varianten an Lebensweisen gibt.

Makarionissi ist der Titel Ihres neuen Buches und auch der Name einer fiktiven griechischen Insel. Sie haben ihr den Namen und eine Form gegeben. Ist es ein Vergnügen, eine Insel zu erschaffen?

Ich habe mich bei der Form an der Insel Ithaka orientiert. Es hat mich auch angestrengt, denn alle Informationen, die ich gegeben habe, müssen stimmig sein und zueinander passen.

Ithaka im Ionischen Meer. Oben ist Osten.

Und nun ist die Insel auf der literarischen Weltkarte verortet.

Mein Vorbild ist Gabriel García Márquez. Sein fiktiver Handlungsort Macondo ist Sinnbild für so viele Dinge. St. Peter und Makarionissi - das ist ein kleines Nacheifern.

Der kolumbianische Geburtsort von Márquez, Aracataca, sollte auf Vorschlag eines ehemaligen Bürgermeisters in "Macondo" umbenannt werden, was allerdings am Votum der Einwohner scheiterte. Könnte Ithaka irgendwann in Makarionissi umgetauft werden?

Also meinen Segen haben sie.

Makarionissi spielt aber auch in Hildesheim, Zürich, St. Pölten und Chicago ...

Was alle diese Orte miteinander verbindet, ist die Tatsache, dass sie klein und überschaubar sind. Auch bei Chicago, was ja eindeutig der größte Ort ist, spielt die Handlung in Greek Town, was wiederrum ein Dorf in einer Stadt ist. Mich interessieren einfach mehr die kleineren überschaubaren Orte.

Sprechen wir über Hildesheim. In Ihrem Roman beschreiben Sie es als eine Stadt, die "von Skeletten aus Betonstützen und Stahlträgern dominiert wird, die ihrerseits von Sichtbeton, Zinkblech und Waschbetonplatten umrahmt werden." Nicht sehr charmant ...

Hildesheim war früher die Fachwerk-Perle Norddeutschlands und wurde dann im Krieg stark zerstört. Das Zitat beschreibt die Situation der 60er-Jahre, als Hildesheim neu gebaut wurde. Ich habe mir vorgestellt, wie es war, als überall das Wummern der Baumaschinen zu hören war.

Haben Sie schon eine Ahnung, welcher Ort eine größere Rolle in Ihrem nächsten Roman spielen könnte?

Ja, der 23. Bezirk von Wien: Liesing. Das ist eine abgelegene Wohngegend. Und auch das Waldviertel und Montenegro auf dem Balkan. Was den Balkan und das Waldviertel verbindet, ist eine ganz große Erzähltradition.

Gibt es ein Buch, das in Hinblick auf die auftauchenden Handlungsorte einen großen Eindruck bei Ihnen hinterlassen hat?

Es gibt einen Landstrich, den ich unbedingt besuchen möchte: New England - wegen der Romane von John Irving.

© Jens Nommel 07/2015

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