Die Jahre
Man kennt diese nervigen Jahresrückblicke im TV oder in Zeitungen: Die „wichtigsten“ kulturellen, politischen und sportlichen Ereignisse eines Jahres werden aneinandergereiht und mit mehr oder weniger, eher weniger originellen/witzigen Kommentaren versehen. Wer käme auf die absurde Idee, solche Rückblicke aus rund 50 Jahren hintereinander anzuschauen bzw. zu lesen? Nun, die frisch gekürte Nobelpreisträgerin Annie Ernaux schreibt das sogar für die Jahre 1955 bis ca. 2005 – mit dem Schwerpunkt Frankreich - auf und mischt anhand von privaten Fotographien hin und wieder ein paar kurze Momentaufnahmen aus ihrem eigenen Leben darunter (ohne das Pronomen „ich“ zu verwenden, bis auf ein einziges Mal, was für eine geniale Idee). Allerdings „vergisst“ sie dabei die positiven Ereignisse zu erwähnen, zumindest im Lauf der Welt hat es solche wohl gegeben, in ihrem eigenen – offenbar ziemlich tristen - Leben möglicherweise nicht. Gewinner des damit verbundene n massiven Namedroppings sind eindeutig François Mitterand und Simone de Beauvoir, die bei Annie Ernaux aber eher nicht so gut wegkommt („Simone de Beauvoir gelesen zu haben war zu nichts anderem gut, als das Unglück zu bestätigen, dass man eine Gebärmutter besitzt. “). Gegen Ende des Buches wird diese „Methode“ erklärt: „Der Prozess des Erinnerns und Vergessens wurde von den Medien übernommen. … Man gehörte zu allem oder keinem. Unsere eigenen Jahre existierten nicht.“ Die Nobel-Akademie sieht darin den „Mut und die klinische Schärfe, mit der sie die Wurzeln, Entfremdungen und kollektiven Beschränkungen der persönlichen Erinnerung aufdeckt“. Vielleicht ist aber Frau Ernaux auch einfach nicht in der Lage, ihre persönliche Erinnerung von den kollektiven Beschränkungen zu befreien? Vielleicht sucht sie im Einfluss des Kollektiven den Grund für die Tristesse der eigenen Existenz? Doch wenn das sogar von Christine Westermann („Sehr zu empfehlen!“) und Jürgen Habermas ("Die ethnologische Beschreibung ihrer gewissermaßen depersonalisierten Lebensgeschichte im Spiegel der französischen Zeit- und Gesellschaftsgeschichte; davon bin ich ganz hingerissen.") in höchsten Tönen gelobt wird, dann muss es doch wirklich äußerst lesenswert sein… Man kann sich aber angesichts der peinlich schlechten „Übersetzung“ des Suhrkamp Verlages die Frage stellen, was die vielen Begeisterten denn eigentlich gelesen haben. Zwei Beispiele: „le comble de la religieuse est de vivre en vierge et de mourir en sainte“ (der Höhepunkt für eine Nonne ist jungfräulich zu leben und als Heilige zu sterben) übersetzt „was haben Ehefrau und Dachpappe gemeinsam? Wenn man sie nicht ordentlich nagelt, liegen sie bald beim Nachbarn“ / „qu‘est-ce que le mariage? Un con promis“ (was ist die Ehe? ein Kompromiss ODER WORTWÖRTLICH ein versprochenes Arschloch) übersetzt „Lebensende mit drei Buchstaben: Ehe“… Man lese also möglichst das fra nzösische Original, aber auch das bringt kein Vergnügen: »Annie Ernaux zu lesen ist ein Schock, eine Erfahrung, vor allem ist es wichtig.« (Nils Minkmar, Der Spiegel) Bei „Schock“ kann man sicher zustimmen.Handlungsorte
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