Journal intime 1982/83

Nicolaus Sombarts Tagebuch ist der Schlusspunkt seiner Memoiren, dem intellektuellen und erotischen Berlin gewidmet: Sombart (geboren 1923 in Berlin), Kultursoziologe und seit dreißig Jahren Funktionär beim Straßburger Europarat, wird 1982 unerwartet nach West-Berlin eingeladen, um mit rd. 25 anderen Wissenschaftlern und Schriftstellern aus unterschiedlichen Disziplinen und Ländern (darunter z.B. auch Stanislaw Lem und György Konrád) als Fellow am „Wissenschaftskolleg Berlin“ teilzunehmen. Als Studienvorhaben gibt er an, eine Monographie über Kaiser Wilhelm II. und Carl Schmitt schreiben zu wollen, nebenher arbeitet er am ersten Teil seiner Memoiren, „Jugend in Berlin“ (erschienen 1984), und schreibt an seinem Tagebuch. - „Am Wissenschaftskolleg verbrachte er ein eskapadenreiches Jahr; dorthin hatte ihn Gründungsrektor Peter Wapnewski geholt, den er 1941 in einem Reichsarbeitsdienstlager kennengelernt hatte. Sombarts 2003 erschienenes „Journal intime“ über sein Jahr als Fellow am Kolleg ist eine aberwitzige, sexuell-intellektuelle Burleske und zugleich ein Sittengemälde des alten West-Berlins.“ (Alexander Cammann, Tagesspiegel) - Sombarts „erotische Abenteuer“ bestehen hauptsächlich darin, regelmäßig das Bordell „um die Ecke“ (Hagenstraße 5) zu besuchen und sich Callgirls (vornehmlich aus dem „Baby-Puff“, wie Sombart es nennt) nach Hause zu bestellen, denn der Sechzigjährige bevorzugt jüngere, androgyne Frauen, auch minderjährige: „…Margarete meldete sich an … wir verbringen den Nachmittag zusammen … Ich spiele genußvoll mit ihrem schönen blanken Körper … Da lernt man nun so ein Kind als Callgirl kennen, Arzttochter, Salemschülerin, geht jetzt brav in ihr Lyzeum. Schulmädchen-Report, >>echt<<. Erzählt zutraulich aus ihrem siebzehnjährigen Leben.“ (Bis zum 5. November 2008 waren sexuelle Handlungen gegen Entgelt mit 16- und 17-jährigen in Deutschland noch erlaubt.) Sombart schwadroniert zwar viel über die Emanzipation und sexuelle Befreiung der Frau, das hindert ihn aber nicht daran, deren finanzielle Notlage auszunutzen, denn es geht ihm nur um eines: „Babsi hatte am Morgen angerufen, sie wollte am Abend zu mir kommen. Ich sagte ihr ziemlich bluntly, daß mich das nicht interessieren würde, wenn es nicht wäre, um mit mir zu schlafen.“ Und Sombart weiß natürlich auch, was Frauen eigentlich wollen: „Weiß ich nicht, daß Frauen unterworfen werden wollen. Die Gewalt lieben und es genießen, wenn man seine Phantasmen auf sie projiziert?“ Inklusive Mystifizierung und Ritualisierung der Prostitution: „>>Heilige<< Prostitution. Meine kleinen Huren: Priesterinnen! Zelebrieren den großen Mythos. Darum ist Prostitution unausrottbar, hat nichts mit Ökonomie zu tun. >>Anthropologische<< Konstante.“ - „Der Rückblick auf seine vie expérimentale wird zum Bildungstagebuch, das mit spielerischem Ernst erotische und intellektuelle Abenteuer entfaltet. Sein utopisches Projekt der sexuellen Befreiung von Frau und Mann feiert einen Höhepunkt: die vorbildhafte Selbstverwirklichung einer erotischen Lebensgestaltung führt ihn in sentimentale Verstrickungen und frivole Situationen.“ (Elfenbein Verlag) – „Vorbildhafte Selbstverwirklichung“, allerdings weniger für die Opfer solch intellektuellen Aberwitzes.

Handlungsorte

»Die längsten Reisen fangen an,
wenn es auf den Straßen dunkel wird.«

Jörg Fauser

Buchdetails

Handlungsorte
Berlin, Straßburg, München, Zürich
Buchdaten
Titel: Journal intime 1982/83
Untertitel: Rückkehr nach Berlin
Kategorie: Erinnerungen / Tagebuch von 2003
LeserIn: Faun
Eingabe: 27.08.2024


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