Ilija Trojanow
im Gespräch über Ortswechsel, indische Elefanten und das Träumen in Parallelwelten
Photo © Thomas Dorn
Herr Trojanow, Sie haben in Ihrem schriftstellerischen Werk viele Handlungsorte in Indien, Afrika und Europa beschrieben. Haben Sie zu einem Ort eine besondere Beziehung?
Die Stadt Triest spielt gleich in zwei meiner Romane eine zentrale Rolle: in Die Welt ist groß und Rettung lauert überall und Nomade auf vier Kontinenten. Das liegt sicherlich daran, dass Triest die erste Stadt im Westen war, die ich kennenlernte. Es ist aber darüberhinaus auch ein kultureller Ort als Hafenstadt, Treffpunkt und Schnittstelle zwischen allen vier Himmelsrichtungen.
Sie haben viele verschiedene Kulturräume kennengelernt. Kann man kulturelle Räume durch die Literatur erfahren?
Die Literatur ist mit Abstand das beste Mittel, um kulturelle Räume zu erfahren. Die Fremde wird dabei nur dann wahrgenommen, wenn sie kein Abziehbild ist. Wenn aber die Fremde bei ihrem Fluktuieren zwischen Annäherung und Abweisung spür- und sichtbar wird, dann kann der Leser etwas erfahren.
Inwiefern unterscheidet sich das Lesen von fernen Ländern vom Reisen?
Die wenigsten Menschen reisen so intensiv, wie manche Autoren die Fremde schildern. Schauen Sie sich an, wie 99% der Touristen in Indien unterwegs sind und was sie dabei erleben – vom Lesen hätten sie mehr.
In Ihrem Roman Der Weltensammler schreiben Sie: "Ortswechsel bedingen Glaubenswechsel." Wie meinen Sie das?
Von einer Religion bleibt ohne ihre Region nur die sinnentleerte Silbe “li” übrig. Und die Religionsgeschichte zeigt, dass jede Religion lokale Unterschiede aufzeigt. Das weiß jeder, der mal eine christliche Messe in Afrika oder Lateinamerika erlebt hat. Jede Landschaft ruft eigene religiöse Formen hervor, denn mit den Landschaften verändern sich die spirituellen Bedürfnisse der Menschen.
Kennen Sie dafür ein Beispiel?
Ganesh ist der indische Gott mit dem Elefantenkopf, der auch im Weltensammler eine wichtige Rolle einnimmt. Ganesh ist ursprünglich ein gefährlicher Dämon gewesen, denn für die Bewohner des Waldes war der Elefant ein wirklich bedrohliches Tier. Erst als der Elefant in den großen Ebenen in Nordindien zum gezähmten Nutztier wurde, veränderte sich die Funktion von Ganesh – vom bedrohlichen Dämonen zum freundlichen Schutzgott. In dem Fall bewirkt die Landschaft sogar eine komplette Umkehrung der Wahrnehmung.
Die Vorstellungskraft ist eine wichtige Voraussetzung für die Rezeption von Literatur. Was meinen Sie, woher kommt die Lust zur Imagination?
Es geht beim Lesen um eine Parallelwelt. Es ist ein urmenschliches Bedürfnis, sich auch in einer Parallelwelt aufzuhalten. Diese kann einerseits das wahre Leben spiegeln, andererseits aber auch davon wegführen, es überhöhen, überwinden und verändern. Das Träumen, wie auch im übertragenden Sinne der Traum eines literarischen Werks, behandeln diese Parallelwelt.
Wenn Literatur den gleichen Sinn wie das Träumen erfüllt, welche Funktion hat das Träumen?
Der Traum gewährt den Zugang zu Erkenntnissen, die uns im wachen Zustand verborgen bleiben. In der indischen Gedankenwelt ist deshalb der Traum eine feste Kategorie in der Welt der Weisheit und Erkenntnis. Die westliche Welt hat dagegen eine lange Zeit – von der Aufklärung bis zur Psychoanalyse – den Traum aufgrund einer rationalistischen Grundhaltung unterschätzt und nicht richtig geachtet.
Welche literarische Landschaft hat bei Ihnen einen besonderen Eindruck hinterlassen?
Ich habe gerade Lateinamerika besucht und festgestellt, wie intensiv ich die Region schon erlebt habe, weil ich jahrelang lateinamerikanische Literatur gelesen habe. Ich wurde dabei in Welten entführt, die mir völlig unbekannt waren. Hundert Jahre Einsamkeit von Gabriel García Márquez ist hierfür ein gutes Beispiel.
Und wo führt Sie Ihre schriftstellerische Arbeit momentan hin?
Mein neuer Roman wird in der Antarktis enden. Es ist der Versuch die große Frage zu behandeln, wie ist es, wenn man an der menschlichen Zivilisation verzweifelt, weil sie offensichtlich nicht in der Lage ist, der Zerstörung der Natur Einhalt zu gewähren.
Waren Sie zur Recherche vor Ort?
Ja, ich war dort. Auch wenn es grundsätzlich möglich wäre, ausschließlich auf Basis von Recherche ein Buch zu schreiben. Es gibt allerdings auch zahlreiche Beispiele für Bücher, bei denen man merkt, dass der Autor nicht an Ort uns Stelle war.
Interview © Jens Nommel 06/2008