Michael Roes
im Gespräch über die eigenen Grenzen
Herr Roes, fast alle Ihre Romane handeln in der Ferne: in der saudischen Wüste, Algerien, Mali oder am Mississippi. Bezeichnen Sie sich als Reiseschriftsteller?
Nein. Ich bin Schriftsteller, und viele der Handlungen spielen scheinbar woanders. Dabei bin ich ein guter Rechercheur vor Ort, denn ich weiß gerne, worüber ich schreibe. Vor meinem neuen Chinaprojekt habe ich mich lange gescheut, denn vieles, was ich vorher über China gelesen habe, hat mich eher abgeschreckt. Aber es war dann eine gute und tiefe Erfahrung, weil es vollkommen anders war. Es wäre fatal gewesen, einen Roman über China zu schreiben, ohne dort gewesen zu sein. Auch wenn China nicht die Hauptrolle spielt, sondern eher die Folie für die Handlung ist. Es gibt ja viele Autoren, die ihre Reisen am Schreibtisch machen, etwa Karl May als berühmtes Beispiel. Ich glaube, in dem Fall hat man es mit Projektionen zu tun, also mit Fantasieorten und nicht mit realen Orten.
Viele Autoren nutzen ihre eigenen Wohnorte als Kulisse, weil sie sie sehr genau kennen. Stellt das für Sie keinen Reiz dar?
In dem Augenblick, an dem ich an einem Ort bin, bin ich ja real da. Es ist dann auch kein anderer Ort mehr. In der Regel bin ich auch nicht kurz da – im Jemen und Algerien war ich jeweils ein Jahr. Es ist ja nicht nur eine intellektuelle, sondern auch eine physische Auseinandersetzung. Es sind dann keine fremden Orte mehr, über die ich schreibe, sondern eher das Eigene, von dem ich erstmal Abstand nehme. Es ist ein ganz banales psychologisches Phänomen, dass man Abstand braucht, um das Eigene besser wahrzunehmen. Es geht also nicht um die Eroberung der Fremde, sondern um die Erfahrung des Eigenen, in- dem ich mich erstmal davon entferne. Ich bin gerne in Berlin, aber es ist mir viel zu dicht, so dass ich nichts zu schreiben wüsste über mich in dieser Stadt. Letztlich ist die Fremde immer nur der Spiegel des Eigenen. So wie der Ethnologe im Leeren Viertel, der sich entfernt, sich aber in der Fremde erst richtig begegnet. Das ist die Art und Weise, wie ich arbeiten muss. Außerdem ist für mich das Reisen mit Lust verbunden. Ich kann meine intellektuelle Lust mit einer körperlichen Lust verbinden. Es ist schon ein Privileg, sich den Ort des Arbeitens aussuchen zu können.
Schreiben Sie denn vor Ort?
Ich sammle das Material zwar vor Ort und bereite mich gut auf die Reise vor. Wenn ich reise, bin ich vollkommen offen für die Fremde. Ich konzentriere mich nicht auf Dinge, die ich womöglich für mein Projekt benötige, sondern lasse sie auf mich zukommen. Dann kehre ich zurück, und das Bearbeiten beginnt. Es würde mich blockieren, wenn ich mit einem Fernrohr losgehe und nur das suche, was ich brauche.
In welcher Form bringen Sie Material von Ihren Reisen mit?
Früher waren es nur Notizen, inzwischen ist auch der Film dazugekommen. Das Photographieren empfinde ich als sehr anstrengend, weil es mir immer auch als ein aggressiver Akt erscheint. Durch das Photographieren verlasse ich das, was ich eigentlich postuliere, nämlich das vollkommene Offensein, denn Photographieren heißt ja, sich auf ein bestimmtes Objekt zu fokussieren und es zu schießen. Das ist für mich das Gegenteil von frei schwebender Aufmerksamkeit. Das Filmen hingegen ist zu meinem zweiten künstlerischen Stand- oder Spielbein geworden. Ich habe bislang drei Spielfilme und zwei Dokumentarfilme gedreht, die eng mit den Orten meiner literarischen Recherche verbunden sind.
Ausführliche Landschaftsbeschreibungen findet man kaum in Ihrem Werk. Geht es Ihnen um die innere Erkenntnisreise?
Landschaft ist für mich in dem Augenblick wichtig, wo sie sich auswirkt. Zum Beispiel, wenn das Klima eine direkte Wirkung auf den Körper hat. Aber was ich meide, ist die Reiseschriftstellerei bzw. Folklore. Mir geht es um Literatur, um Geschichten, und Landschaft oder Architektur kommen vor, wenn sie mit der Geschichte zu tun haben. Aber sie dürfen sich nicht verselbständigen. Vielleicht bin ich aber auch nicht begabt dafür, mich in Kulissen zu verlieren. Ich möchte es nicht bewerten.
Sie überschreiben Ihre Kapitel oftmals mit einer Ortsbezeichnung, einem Logbuch-Eintrag ähnelnd. Dient es der Orientierung?
Wenn es sich um die literarische Form des Tagebuchs handelt, gehört es einfach zur Authentizität: Der Held ist wirklich vor Ort. Ich zeige aber auch Karten, z. B. von Städten. Diese dienen nicht nur zur geographischen, sondern auch der sozialen und kulturellen Orientierung.
Für den Roman Haut des Südens haben Sie literarische Plätze am Mississippi besucht. Haben Sie gefunden, was Sie sich vorgestellt haben?
Ja, für mein Buch Der Coup der Bedache, in dem es um die soziale Konstruktion von Rasse und Geschlecht geht, habe ich mich auch mit den klassischen amerikanischen Autoren Mark Twain, William Faulkner, Herman Melville und Ernest Hemingway beschäftigt, die sich ebenfalls mit diesen Themen auseinandergesetzt haben. Der Mississippi ist die geographische Metapher, an der ich mich entlanghangeln konnte.
Und es sind viele Spuren der Vergangenheit vorhanden. Die alten Gebäude sind zwar verschwunden, aber die Topographie und das Leben selbst, zum Beispiel die ethnisch getrennten Wohnviertel, haben sich nicht wesentlich verändert. Auch im Gespräch stößt man immer noch auf dieselben Tabus. Das ist etwas, das man nur vor Ort erfährt. Unverändert sind auch immer noch der Fluss und das Klima. Es sind also nicht nur die literarischen (Vor-) Bilder, die man dort sucht, sondern es sind die topographischen Konstanten, die sich nicht so schnell verändern. Man kann Gebäude abreißen und ersetzen, aber das Klima bleibt.
Sie haben mal gesagt, Sie „suchen beim Reisen die Erfahrung des Sich-Verirrens.“ Wie meinen Sie das?
Eigentlich kann ich mich nicht verirren. Ich verfüge über einen Orientierungssinn wie manche Musiker über ein absolutes Gehör. Wenn ich vor einer Reise eine Karte oder einen Stadtplan studiere, finde ich mich in der Fremde problemlos zurecht. Ich verirre mich wirklich nur sehr selten. Schon als Kind bin ich mit dem Fahrrad losgefahren, bis ich in Stadtteile gelangte, in denen ich noch nie war. Das Spiel bestand darin, ohne große Umwege nach Hause zurückzufinden. Und das ist immer gelungen. Ich empfinde das aber nicht nur als Vorteil, denn manchmal wünsche ich mir, mich richtig zu verirren, das heißt Umwege und Irrwege zu gehen, um auf Unerwartetes zu stoßen. Wenn ich reise, lasse ich mich vollkommen darauf ein, was mir widerfährt – körperlich, fast masochistisch. Wenn ich an einem Ort ankomme, sind die ersten Tage abwartend, fast kontemplativ. Ich suche mir dann einen Ort, wo ich mich einfach hinsetze und schaue, rieche, höre. Wir sind ja sehr optisch orientiert, weil wir meinen, fast alles läuft über die Augen, aber was man hört und was die Haut wahrnimmt, ist ebenso wichtig. Man muss seine Sinne unscharf stellen, um alles aufnehmen zu können.
In Leeres Viertel beschreiben Sie einen Zusammenhang zwischen Entfernung & Heimat. Kann man es auf die Formel: „je größer die Entfernung, desto größer die Annäherung an die Heimat“ bringen?
Ja. Wenn ich verreise, entdecke ich plötzlich alles, was typisch deutsch an mir ist: Zuverlässigkeit, Pünktlichkeit, Disziplin – all diese schrecklichen Sekundärtugenden. Man muss tatsächlich in der Fremde sein, um zu sehen, dass man unter 80 Millionen Deutschen zwar einmalig ist, aber aus der Distanz doch eine Menge mit seinen Landsleuten teilt. In Leeres Viertel beschreibe ich außerdem, dass man der Heimat nicht entkommt. Man kann reisen und seinen Horizont erweitern, aber es sind immer die eigenen Grenzen, die man erweitert.
Haben Sie noch einen Büchertipp?
Lu Xun. Er gilt als der wichtigste chinesische Schriftsteller und schrieb über Nanjing in Südchina, das ich gerade besucht habe. Seine Beschreibungen haben mich zunächst erschreckt, denn er schreibt sehr schwermütig und resigniert - eine Art chinesischer Kafka. Aber diese Seite gehört auch zu China, auch wenn es dann in Nanjing doch ganz anders war. Man sollte sich auch von großen Autoren nicht davon abhalten lassen, selber zu reisen und sich vor Ort ein eigenes Bild zu machen.
Interview © Jens Nommel 12/2007