Karla Paul

die Bloggerin im Gespräch über Welterschließung durch Literatur

Photo © Simone Hawlisch

Frau Paul, Sie schreiben seit Jahren erfolgreich über Bücher.
Wie sieht Ihre geistige Literaturkarte aus?

Versprenkelt bunte Flecken auf einer riesigen weißen Fläche – je mehr ich lese, desto weniger weiß ich. Soll heißen: mit den Jahren wurden mit wachsendem Wissen meine Anforderungen immer größer, ebenso meine Neugier, es gibt auf jede erlesene Antwort ein Dutzend neue Fragen. Ich lese viel, drei bis fünf Bücher pro Woche und das ist meistens deutsche und amerikanische Gegenwartsliteratur, manchmal mit Ausflügen nach Großbritannien, in diesem Jahr nach Georgien, oft nach Frankreich, Italien, Griechenland, Türkei, immer öfter ist auch Afrika dabei, selten Asien oder Australien. Ich lese meist entsprechend den Anforderungen und Anfragen bestimmter Medien, bemühe mich um Vielfalt und scheitere oft. Allerdings werde ich auch hier stetig achtsamer: wer sind meine Autor_innen, wo kommen sie her, welchen Gesellschaften und Kulturen entstammen sie, welche Erfahrungen wollen sie teilen? Wenn ich die Antworten schon habe, sollte ich weitersuchen. Dies wünsche ich mir auch von Leser_Innen, mehr Neugier, mehr Mut für unbekannte Literatur, mehr Frauen, mehr Farbe, mehr raus aus der geistigen Komfortzone und die weißen Flächen füllen.

Welche Bücher haben bei Ihnen einen besonderen Eindruck hinterlassen in Hinblick auf die Imagination von fremden Orten?

Anfang des Jahres ereilte mich eine Einladung in das Buchmessegastland Georgien. Ich kannte vorher nur Nino Haratischwili, hatte sonst nie etwas von dort gelesen, mich nie kulturell damit auseinandergesetzt, war mir allein der politischen Geschichte bewusst, nicht der poetischen. Deswegen bin ich sehr dankbar für den dortigen Besuch und die begleitenden Möglichkeiten. Das Land, dessen Literatur warf mich mit seiner Fülle an Poesie, Spannung, Politik, Leidenschaft schier um und darf mich hoffentlich auch noch in Zukunft begeistern. Ich empfehle ganz besonders das schon fast als Klassiker geltende „Santa Esperanza“ – eine Erzählung in 36 Heften, die beliebig gelesen werden können und sehr gut die bunte, intensive Geschichte des Landes wiedergeben, ebenso „Der Held im Pardelfell“, das georgische Nationalepos in der Neuinterpretation von Tilman Spreckelsen und Kat Menschik!

Und hat ein Roman oder ein Krimi bei Ihnen schonmal eine Reise initiiert?

Bisher war es immer umgekehrt, d.h. wenn ich auf einen Ort aufmerksam werde, wenn ich Fragen habe zur dortigen Kultur, der Geschichte, der Gesellschaft – versuche ich dies zumindest in Teilen über die Literatur zu erleben und verstehen. Es ist mein Weg der Welterschließung und mein Versuch, den Menschen näher zu kommen, die ich in der Realität vielleicht nicht (mehr) treffen kann. Aber je älter ich werde, je mehr ich gesehen und gelesen habe, desto mehr wünsche ich mir auch wieder den tatsächlichen Austausch und das Ergänzen der Theorie durch Auffüllung aller Sinne. Wie riecht es dort, wie schmecken die Speisen, wie klingt es bei Tag und Nacht, wie hell ist das Licht, wie fühlt sich das Erleben an, auf der Haut und im Herzen? Im Idealfall ergänzt sich all das und füllt uns die innere Landkarte und das erlesene Wissen aus den Büchern dann erneut mit Farben, Tönen, Gefühlen, Vorstellungen auf.

Sind Sie selbst ein Stadt- und ein Landkind?

Beides. Aktuell wechsel ich von einem Leben in der Großstadt mit beruflich bedingten Ausflügen national sowie international in die Einsamkeit am Sylter Nordseestrand. Diese Möglichkeit weiß ich sehr zu schätzen und werde ich, wenn das Leben denn mitspielt, mich auch im Erhalt dessen versuchen. Ich liebe die Vielfalt, deswegen lese ich so gern, deswegen entdecke ich so gern, deswegen erlebe ich so gern und das gilt auch für meine Umgebung. Ich freue mich auf Neues und kehre dann in der Stille zu mir zurück, um alles Gesehene und Gefühlte wertschätzend und sinnvoll zu verarbeiten.

Und gibt eine Vorliebe für Romane der Provinz oder der Metropole?

Mir geht wenig mehr auf die Nerven als Romane über Generationskonflikte in Berliner Szenebezirken, das ist so eine persönliche, willkürliche Abneigung von mir. Ich ertrage schon die hippen Städter mit Luxusproblemen im eigenen Viertel kaum, mich eingeschlossen, da will ich nicht noch darüber lesen und meine eigene Arroganz erkennen, grauenhaft. Aber in der Provinz bin ich aufgewachsen, das ist sehr langweilig und lässt sich selten spannend erzählen, ausser man lügt – das ist natürlich erlaubt. Glücklicherweise gibt es aber weltweit viele Zwischenstufen und neue Ansätze, die mich dann doch locken und begeistern – so zuletzt „Befreit“ von Tara Westover, über die Grausamkeit der amerikanischen Einöde (regional & geistig) und die Befreiung daraus Richtung Großstadt und Freiheit mithilfe Information, Bildung, Literatur.

Kurze Antwort: Lieber ohne Buch raus in die Welt - oder besser mit Buch daheim bleiben?

Beides. Die Mischung macht es aus, das gegenseitige Ergänzen von Theorie und Praxis. Lest, lest so viel wie möglich und geht dann raus und sprecht darüber. Bücher können wunderbare Rückzugsorte sein, eine innere Erholung von all den Anforderungen und manchmal Überforderungen bieten. Aber ein Schiff wird auch nicht gebaut, um im Hafen zu bleiben, also raus mit uns und all das Gelesene im Herzen mitnehmen. Literatur ist stets nur eine Momentaufnahme, eine Möglichkeit für wertvolles Innehalten – aber das Leben ist eben nicht für Stillstand gedacht und bietet so viele Wunder, deren volle Schönheit niemals zwischen Seiten passt.

Literatur-Blog von Karla Paul: buchkolumne.de

© Jens Nommel 11/2018

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